BODYCOUNT – jedeR zählt!

24.05.2020

In diesem Blogbeitrag geht es mir um das schwierige Thema Opferzahlen und unseren Umgang damit.

  • Was ist ‚Body Count‘ eigentlich?
  • Warum zählen wir ‚Bodies‘?
  • Wann bedeuten uns Zahlen etwas?
  • Wie nutzen Mächtige und Medien die Zählerei?
  • Was macht Body Count mit dir und mir?
  • Wie könnten wir es anders machen?
  • Frauen und Kinder nicht zuerst?

Wir Menschen lieben es, Dinge zu zählen und zum Vergleich ins Verhältnis zueinander zu stellen. Unser Alter, Vermögen, Windstärken, Oberweiten und Genitallängen – einfach alles. Mathematik ist bekanntlich auch eine Sprache. Jeder zählt, heißt, wirklich jeder Mensch zählt gerne.


Was ist ‚Body Count‘ eigentlich?

‚Body Count‘, wenn es nur das zählen von Personen wäre, ist dann ja eigentlich auch völlig ok. Jedoch meint ‚Body Count’ etwas anderes – nämlich das zählen von Leichen. Laut Wikipedia eine Idee der Amerikaner im Vietnamkrieg, gleichwohl lehrt uns die Geschichte, das Opferzahlen, v.a. die der Gegner schon immer als eine wichtige Größe für den vermeintlichen Erfolg einer kriegerischen Auseinandersetzung angesehen wurden.

Warum zählen wir ‚Bodies‘?

Weil wir es können. Und weil wir versuchen, es uns so leichter zu machen, das unfassbare konkreter und vorstellbarer und eben auch vergleichbarer zu machen. Wenn wir etwas vergleichbar machen, können wir unsere Aktion und Reaktion darauf besser einstellen.

Beispiel Wetter: Aus der Vorhersage von Temperatur, Wind, etc. leiten wir mit der Erfahrung, die wir mit gleichen oder ähnlichen Werten gemacht haben, ab, was wir am kommenden Tag machen, was wir anziehen, etc..

Beispiel Risiko: Aus dem möglichen Risiko vom Blitz getroffen zu werden, laut VDE ca 1:20.000.000, könnten wir ableiten, das es uns vermutlich nie treffen wird. Umgekehrt spielen sehr viele regelmäßig Lotto bei gleich unwahrscheinlicher Gewinnchance. Zahlen allein sind es also nicht.

Wann bedeuten Zahlen uns etwas?

Der zweite, vielleicht wichtigere Faktor, sind, unsere Emotionen in Bezug auf Geschehnisse. Erleben wir etwas nah und direkt, zählt jeder einzelne Moment. Fällt der berühmte Sack Reis in China um, betrifft es uns wenig, weil es weit weg geschieht und in gefühlt unendlicher Menge verfügbar ist, sodass es fast gleich ist, ob ein Sack oder eine Million Säcke in China umfallen. Es bleibt abstrakt und anonym.

Stürzt irgendwo weit weg ein Flugzeug ab und es sterben alle 36 Insassen, empfinden wir wenig, weil es weit weg ist – und weil es nur 36 sind, während wir ja schon von ‚schlimmeren‘ Abstürzen gehört hatten mit weit über 100 Toten. Stürzt ein Flugzeug in Deutschland ab, fühlen wir schon eher Betroffenheit – denn es ist nah. Verlieren wir einen nahen Angehörigen oder Freund bei diesem Absturz, ist dieser eine Verlust, der nur einen Zähler in einer Statistik darstellen würde, für uns unendlich wichtig und schmerzhaft. Ab da bleiben Flugzeugabstürze für uns immer schlimm, denn sie bedeuten uns etwas.

Wie nutzen Mächtige und Medien die Zählerei?

So wie wir alle – zu unseren Gunsten. Bekanntermaßen vertrauen wir besser keiner Statistik, die wir nicht selbst gefälscht, oder sagen wir besser, erstellt haben. Die Amerikaner hatten nicht nur im Vietnamkrieg innen- und außenpolitisch Rechtfertigungsbedarf, also versuchten sie mit möglichst hohen Opferzahlen auf der gegnerischen Seite den eigenen Erfolg zu dokumentieren und die hohen Ausgaben zu rechtfertigen.

Opfer ist jedoch nicht gleich Opfer. Zivile Opfer, die sogenannten Kollateralschäden, sind dem Image schädlich, Opfer unter den gegnerischen Soldaten öffentlich akzeptiert als Messgröße. Frauen und Kinder als Opfer empfinden wir grausamer als wenn in gleicher Anzahl Männer oder Alte zu Tode kommen. Dem Autor, einem mittelalten Mann, kann das nicht gleichberechtigt vorkommen. Und doch, ginge es um mein Leben oder das Leben meiner Frau und Kinder – das wäre mir grausamer.

Nicht erst seit 2001 werden bestimmte Ziele auf einer Todesliste höher bewertet als ‚1’ im Body Count. So wird regelmäßig verkündet, welche Nummer auf der Liste noch offen ist, oder eben nicht mehr offen. Was dann meistens einer gegen die Menschenrechte verstoßenden Tötungsaktion folgt.

Und die Medien? Die machen, was wir Abonnenten, Leser und Käufer honorieren. Und da eine Mehrzahl eine Nachricht eher anklickt oder eine Zeitung mit krachender Titelzeile eher kauft, die möglichst drastische Zahlen nennt, wird auch hier gebodycountet was das Zeug hält. COVID-19 ist so ein Beispiel. Body Counting hat Hochkonjunktur. Überall möglichst drastische Listen, Vereinfachungen und Zusammenziehungen – Hauptsache die Zahlen beeindrucken und ziehen Kunden an. Leider reihen sich nach meiner Beobachtung zunehmend auch öffentlich-rechtliche Medien in diese Kakophonie ein. Auch die müssen offenbar um die öffentliche und politische Gunst buhlen, statt zu tun, was richtig wäre. So wird jeder Meldung sofort die vermeintliche Opferzahl zugesellt. Je höher desto besser.

Im folgenden Video ein Beispiel aus den ARD Tagesthemen – direkt der Aufmacher in der ersten Meldung, ‚…eine Corona-Pandemie, die bisher fast doppelt so vielen Amerikanern das Leben gekostet hat, wie der Vietnamkrieg…“.

Body Count Vergleich Vietnamkrieg und Corona, Quelle: ARD Tagesthemen, 02.06.2020

Relationen helfen uns grundsätzlich Dinge zu begreifen und einzuordnen – jedoch Relationen im Body Count sicher nicht. Warum sagt Ingo Zamperoni also nicht „…mit inzwischen mehr als 100.000 Corona-Toten – diese Zahl entspräche der gesamten Einwohnerzahl von Cottbus oder Hildesheim…“, sondern zieht den Vietnamkriegsvergleich? Weil Cottbus und Hildesheim, bei allem Respekt, die wenigsten in Deutschland kennen, und Tote in einem Krieg immer mehr Aufmerksamkeit ziehen als eine Kleinstadt irgendwo im Hinterland.

Ethisch sind Body Count Vergleiche unangebracht. Dieser Vergleich mit dem Vietnamkrieg ist zu dem auch noch inhaltlich irreführend und falsch. Laut Wikipedia gehen seriöse Schätzungen von bis zu vier Millionen Opfern im Vietnamkrieg 1955-1975 aus, darunter weit über eine Million Zivilisten. Die USA gibt knapp 60.000 Opfer unter den US Soldaten an. Auch nicht mitgezählt sind die Opfer des Vietnamkrieges, die an Folgen des Krieges nach 1975 gestorben sind. Dazu heißt es bei Wikipedia, dass von den über zwei Millionen US Veteranen über 40.000 im Vietnamkrieg heroinabhängig wurden, und dass über 300.000 straffällig und inhaftiert wurden. In der Süddeutschen Zeitung 2019 wird angegeben, dass mehr US Veteranen des Vietnamkrieges nach 1975 Selbstmord begangen haben, als im Krieg gefallen sind. So ein Vergleich ist also mehr als unangebracht.

Nachtrag Anfang Juli 2020: Nicht überraschend, dass die Presse bei steigenden Opferzahlen den nächsten unangebrachten Vergleich ausgepackt hat: Es seien durch Corona mehr Amerikaner gestorben als im ersten Weltkrieg ????????‍♂️

Gleichwohl gelebte Praxis. Reicht die absolute Zahl nicht, werden die relativen Größen bemüht, die das Ziel -Aufsehen- unterstützen. ‚…darunter XYZ Frauen und Kinder‘, ‚höchste Anzahl seit…‘, ‚schlimmste Unglück im Bereich…‘, ‚…verheerendstes Ereignis in der Region ABC‘, u.s.w.. Jedoch nur die Relative, die dem Ziel hilfreich sind. Beispiel COVID-19 Liste der Süddeutschen Zeitung, da wird eine Bundesstaatengemeinschaft wie die USA mit ca. 330 Millionen Einwohnern und einer Fläche von ca. 10 Millionen Quadratkilometern einzelnen Ländern wie Chile mit ca 18. Millionen Einwohnern auf ca. 800 Tausend Quadratkilometern oder China mit ca. 1,4 Milliarden Einwohnern und einer Fläche von ca. 10 Millionen Quadratkilometern in einer Tabelle nach absoluten Zahlen aufgelistet. Mal ganz abgesehen davon, dass die Quelldaten fraglich sind, finde ich diese Darstellung grob irreführend. Wir Menschen sind einfach zu berechnen.

An dieser Stelle noch ein Nachtrag: Rezo hat am 31.05.2020 mit ‚Die Zerstörung der Presse‘ ein weiteres sehenswertes Video gepostet, in dem er über die Praktiken der Presse und die all zu oft falsche Faktenbasis berichtet.

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Was macht Body Count mit dir und mir?

Was macht diese Art des Body Count mir dir? Wie wirken solche Zahlen auf dich? In jedem Falle beeinflussend. Manipulativ. Aber auch abstumpfend. Am Anfang der Corona Berichterstattung waren Zahlen im Zehnerbereich noch bemerkenswert – mittlerweile fiebern wir fast dem Erreichen der nächsten Schwellen entgegen – ‚wann knackt die USA die 100.000 Tote Marke‘, ‚überholt Brasilien die USA bald‘, ‚bleibt Deutschland der Klassenstreber mit geringen Opferzahlen‘, ‚schlägt Corona den schwarzen Tod von 1346 und 1353 mit ca. 25 Millionen Opfern?’. In den Redaktionen sind die Artikel schon vorbereitet für die nächste Titelzeile, wetten dass? Schlimme Body Count Wirkung.

Quelle: New York Times Website, 24.5.2020

Die New York Times hat am 24.5.2020 einen bemerkenswerten Gegenimpuls gesetzt mit dem Titelseitenaufmacher ‚Ein unschätzbarer Verlust‘. Die bald erreichte Zahl von 100.000 Opfern, die nur noch namenlose Ziffern in der Statistik zu werden drohen, erhalten hier ein Symbol und viele einen Namen. Eben nicht nur Ziffern in einer Statistik, sondern alles geliebte und wertvolle Menschen.

In Frankreich standen testweise an den Straßen in einer Region lebensgroße schwarze Silhouetten in der Anzahl und Größe der dort in den vorangegangenen zehn Jahren zu Tode gekommenen Menschen. Das machte mich sehr betroffen. An Unfallschwerpunkten standen dort große Gruppen schweigender Mahner, Erwachsene und Kinder. Dies wäre eine Dauer-Maßnahme auch für uns in Deutschland, um die schon spürbar zurückgehenden Unfallopferzahlen weiter zu reduzieren und die Erinnerung an die einzelnen Menschen zu erhalten, die nicht nur eine Zahl waren und sind. Allein auf einem 150km langen Abschnitt der A2 gab es 2018 über 500 Unfallopfer, davon 24 Tote.

Nachtrag vom 28.09.2020: Anlässlich des Gedenktages an das mittlerweile als rechtsradikal erkannte Oktoberfest-Attentat vom 26.09.1980 wurde eine Gedenkstätte in München eingeweiht, bestehend aus 234 (die offizielle Zahl der Verletzten und Toten) lebensgroßen Silhouetten. Die Süddeutsche Zeitung hat dazu einen Artikel geschrieben.

In den Auftaktreden der Staatsmänner und -Frauen zur Corona-Krise haben die allermeisten, so natürlich auch D. Trump kriegerische Metaphern bemüht und die Bevölkerung auf die Opferzahlen ‚vorbereitet‘. 200.000 hatte Donald Trump damals in seiner wohl leider nicht unnachahmlichen Art avisiert. Er sprach von absoluten Zahlen – Angela Merkel hat in ihrer Fernsehansprache keine kriegerischen Begriffe gewählt, sondern versucht, unsere Betroffenheit zu aktivieren in dem Gedenken an unsere nahen Angehörigen und geliebten Menschen. Das war groß. Wenngleich die Wirkung auch schrumpft, da sie nach meiner Wahrnehmung nicht dran bleibt.

Und genau das macht es auch mit dir und mir und damit mit uns allen. Unsere Wahrnehmung für die Bedeutung und damit unsere Betroffenheit schrumpft, wenn wir nicht aktiv etwas dagegen tun. Aktiv dem Body Counting einen Gegengedanken verpassen, aktiv die Bedeutung erkennen und aktiv unsere Fähigkeit zur Betroffenheit stärken. Vergessen oder verpassen wir das, laufen wir Gefahr abgestumpft tolerant zu werden. Und das öffnet Tür und Tor für gruselige Nicht-Betroffenheit angesichts von Massentiervernichtung, Tausenden Flüchtlingstoten im Mittelmeer und anderswo, Hunderttausenden Toten in Syrien und zahllose weitere menschengemachte Katastrophen, die in den Nachrichten an uns vorbeiflimmern.

Wie könnten wir es anders machen?

Es einfach anders machen. Uns nicht zufrieden geben mit oberflächlichen Body Count Berichterstattungen. Diskussionen führen, auch wenn diese anstrengend und komplex werden. Schwätzern keine Foren überlassen, sondern einschreiten und eine Diskussion führen. Informiert sein, die Fakten herausfinden und vielleicht mit direkt Betroffenen sprechen, damit wir Betroffenheit empfinden können.

Als ich vielleicht in der zehnten oder elften Klasse war und wir das Thema ‚Holocaust‘ behandelten, habe ich einem von mir ohnehin nicht sehr geschätzten Mitschüler Prügel angedroht, weil er befand, dass Stalin wenigstens genauso schlimm wie Hitler gewesen sei. Damals hätte ich mir einen Lehrer gewünscht, der diesen Moment aufgreift, um für uns alle dieses Lernen zu ermöglichen. Fehlanzeige. Nur Prügelvermeidung, keine Diskussion. Es hätte mir und uns geholfen, wenn wir uns die Fakten angeschaut hätten – und vor allem gelernt hätten, dass Body Count und Vergleiche dieser Art nie angemessen sind, und dazu noch in eine gefährliche Richtung führen. Ja, während der Herrschaftszeit von Stalin und Hitler sind wohl ähnlich viele Menschen umgebracht worden. Nein, die Zahlen allein sagen wenig – und diese Zahlen sind auch keine angemessene Vergleichsgröße.

Das durch den Film ‚Schindler’s Liste‘ bekannt gewordene Talmud-Zitat ‚Wer ein Menschenleben rettet…‘ sollte uns laut Jüdischer Allgemeine lehren, dass, ‚Wer ein Menschenleben rettet, dem wird es angerechnet, als würde er die ganze Welt retten. Und wer ein Menschenleben zu Unrecht auslöscht, dem wird es angerechnet, als hätte er die ganze Welt zerstört.’ – also keine Frage der Quantität, sondern der Qualität im Sinne von Recht und Unrecht. Auch schwierig, weil von Menschen definiert, was Recht und Unrecht ist – dazu an anderer Stelle hier mehr.

Frauen und Kinder nicht zuerst?

Nein, schon lange nicht mehr. ‚Frauen und Kinder zuerst‘, der so genannte ‚Birkenhead Drill‘ soll im Jahre 1852 bei der Evakuierung des sinkenden Transportschiffes HMS Birkenhead ausgerufen worden sein. Vorher war üblich: ‚Jeder für sich‘ oder ‚Rette sich, wer kann‘. Inzwischen gilt im Sinne der Gleichberechtigung ‚Hilfsbedürftige zuerst‘. Das sind ja dann wohl wir Männer ????.

Im Artikel 1 unseres Grundgesetzes heißt es u.a., ‚die Würde des Menschen ist unantastbar.‘. Gemeint ist jeder einzelne Mensch. In Corona Zeiten ist die Diskussion um die Triage, d.h. die Priorisierung von Hilfeleistungen abhängig von z.B. Alter oder Überlebenschance wieder in den Medien. Wie hältst du es damit? Sollte ein Arzt ein Kind retten, wenn er dafür einen alten Menschen vom Beatmungsgerät oder seiner Versorgung abschalten muss? Am liebsten wünschen wir uns, dass wir diese ethischen Fragen nie stellen oder beantworten müssten. Müssen wir aber. Weil wir die Fragen und die Antworten brauchen, für uns alle, wenn die Zeiten es erfordern – und für die Ignoranten, die es zwischendurch vergessen oder anders sehen wollen. Und ja, jede Meinung darf im Sinne der Meinungsfreiheit sein – jedoch müssen wir diese nicht undiskutiert stehen lassen – und schon gar nicht, dürfen wir Einzelmeinungen durch Untätigkeit zum Virus in einer großen demokratischen Mehrheit werden lassen.

Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, ‚Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.‘ Alle heißt, jeder zählt, sollte heißen, auf jeden kommt es gleich an, denn jeder Mensch ist gleich viel wert.

Wikipedia: Body Count
VDE: Blitzwahrscheinlichkeit
Wikipedia: Vietnamkrieg
Süddeutsche Zeitung: US Veteranen
Wikipedia: Grundgesetz
Wikipedia: Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
Wikipedia: Triage
Wikipedia: Birkenhead Drill
New York Times: Incalculable Loss
Wikipedia: Stalinsche Säuberungen
Jüdische Allgemeine: Wer ein Menschenleben rettet…