MITNEHMERITIS – sprachliche Verirrungen!

20.04.2020

Es ist ganz offensichtlich doch möglich, in mehreren Fettnäpchen gleichzeitig zu stehen. Keinen Schritt vor, zwei zurück. Kein Glück haben und dann noch Pech dazu. Leute ‚mitnehmen‘ zu wollen und sie dabei noch mehr zu verlieren.

Allein die gesprochenen Worte anzuschauen, reicht nicht. Unsere Sprache ist entweder authentischer Ausdruck unserer Haltungen und Absichten, oder irgendwo gibt es eine Lücke, die zu Taten und Redewendungen führt, die nicht so gut gelingen, oder auch gründlich misslingen und sich gegen uns wenden.

Zwei Klassiker

‚Mitnehmen‘ und ‚Abholen‘. Geht es nach der inflationären Verwendung dieser Worte, sind viele wohl nebenberuflich Busfahrer oder dergleichen. Zu jeder Gelegenheit, hören wir, das jemand Bürger ‚mitnehmen‘, Kollegen ‚abholen‘, das Team ‚mitnehmen‘ oder die Geschäftsleitung ‚abholen‘ will. Wartende an Haltestellen, Tramper an der Straße, eigene Kinder aus der Kita oder auch Mitglieder einer geführten Reisegruppe wollen abgeholt oder mitgenommen werden – alle anderen mündigen Menschen ganz sicher nicht.

’ner alten Frau über die Straße helfen?

In 2009 hat die ARD Fernsehlotterie einen Werbespot aufgelegt, der dieses Phänomen humorvoll aufgreift:

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Was passiert hier? In der vorweihnachtlichen Stimmung deutet ein Mann die Situation falsch und ‚hilft‘ der netten alten Dame über die Straße. Beschwingt von seiner guten Tat trällert er davon, ohne vom weiteren Schicksal der Dame Notiz zu nehmen.

3 typische Phänomene lassen sich hier beobachten, die auch in anderen Situationen schief laufen:

  • Phänomen 1: KEINEN BLICK FÜR DIE ANDEREN…
    Der Mann geht nur von seiner Sicht der Dinge und Deutung der Situation aus. Er versetzt sich nicht in ihre Lage und fragt auch nicht nach.
  • Phänomen 2: KEINE WAHRNEHMUNG FÜR SIGNALE…
    Er ist so von sich und seiner guten Tat begeistert, dass er die deutlichen Signale der sich wehrenden Dame überhört.
  • Phänomen 3: WEITER GEHEN; OHNE ZURÜCK ZU SCHAUEN…
    Einmal über die die Straße gebracht, geht er trällernd weiter. und hat keine Aufmerksamkeit mehr für die Dame und ihr Schicksal.

KANNNICHT-WILLNICHT-MATRIX

Es scheint ja so, als wäre dieser Mann ein netter, als wären seine Beweggründe rein-weg positiv und freundlich. Stimmt vermutlich – hilft der Dame aber nix.

Ein gutes Instrument, um der Ursache für solche schief gelaufenen Situationen auf die Spur zu kommen, ist diese ‚KANN-NICHT-WILL-NICHT-MATRIX‘.

Ein Klassiker für ‚WILL‘ & ‚KANN-NICHT‘ im Sinne falscher Komunikationsberatung und vermutlich falscher Einschätzung ist der misslungene Auftritt von Peter Altmaier bei eine der Fridays for future Demos im März 2019, hier schön im Video (Quelle: ZDF Heute Show, YouTube Channel ‚Just a random YouTube User‘) zu sehen.

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Wie so oft, reihen sich hier Ereignisse, die anders eintreten als erwaret, und Reaktionen auf Ereignisse, die wiederrum anders als erwartet ausgehen, aneinander. Die wohlmöglich gute Idee mit den Demonstrierenden ins Gespräch gehen zu wollen, mag vermengt gewesen sein, mit der Ambition, den Moment strategisch für sich zu nutzen. Als die Stimmung dann so gar nicht gesprächsbereit war, wird die menschlich nachvollziehbare, jedoch unprofessionelle Unmutsäußerung von Peter Altmaier auch noch medial erfasst und geht viral. Der Abgang im Pfeiffkonzert war dann die nächste schlechte Entscheidung und ungünstige Entwicklung. Das Verhalten der Demonstranten ist hier auch nicht ganz unkritisch – jedoch, so ist das politische Leben nun mal.

Zug und Druck erzeugen Widerstand

Zurück zu Redewendungen, die sich gegen uns wenden. Was passiert, wenn wir für uns schräge oder unangebrachte Redewendungen hören? Was löst es bei dir aus, wenn dich jemand ungefragt und unaufgefordert ‚abholen‘ oder ‚mitnehmen‘ will? Klassisch sind diese Reaktionen:

  1. ABLEHNUNG – ‚…auf keinen Fall!‘
  2. WIDERSTAND – ‚…ich will nicht!‘
  3. SKEPSIS – ‚…wieso sollte ich da mit wollen?‘
  4. IRRITATION – ‚…wo geht’s überhaupt hin?‘
  5. EGALISMUS – ‚…mir doch wurscht, steig ich halt ein.‘
  6. BEREITSCHAFT – ‚…na klar, warum nicht?‘
  7. EUPHORIE – ‚…endlich geht es los!‘

Am häufigsten ist 1.-5., denn unsere übliche Reaktion auf Zug und Druck ist Widerstand. Zug und Druck entsteht für uns auch, wenn wir eigentlich von der Idee oder Aufforderung hätten begeistert sein könnten, wir aber nicht richtig dazu angesprochen wurden. Plump nennen wir die Avancen, wenn sie von der falschen Person, zum falschen Zeitpunkt oder in der falschen Art kommen. Die gleichen Avancen sind romantisch und herzgewinnend, wenn Person, Moment und Art für uns passt.

Stehen Sie bloß nicht hinter mir!

‚Wir stehen hinter ihnen!‘ – auch diese Redewendung wird gern und viel von Vorständen, Geschäftsführern und Managern verwendet. Noch so ein Klassiker. Ich habe es auf einer Betriebsversammlung live mit erleben dürfen, wie die Unternehmensleitung auf den unvermeidlichen Spruch, ‚…können Sie sich darauf verlassen, dass wir alle voll hinter Ihnen stehen werden!‘ die direkte Antwort aus dem Plenum bekam, ‚Ja…, schön…, aber geschossen wird von vorne!‘. Das höhnische Gelächter verhallt irgendwann – nicht die Erinnerung an diese Situation.Kritisch vor allem, da es nicht nur eine verbale Panne für die Unternehmensleitung war, sondern dem Erleben der Mitarbeiter entsprach, dass die Unternehmensleitung eben nicht schützend, sondern verschärfend ‚hinter ihnen steht‘.

Wie wendet sich die Rede zum Guten?

Eine wichtige Zutat, um aus einer Redewendung keinen blöden Spruch, sondern einen gelungenen Impuls zu machen, ist, Authentizität. Wenn wir andere Menschen ansprechen, zu etwas auffordern oder gar in Führung gehen wollen, hilft es uns, wenn unsere Haltung, unser Verhalten und unsere Sprache eine große Schnittmenge haben. Wir Menschen haben ein sehr feines Gespür für authentisches oder nicht authentisches Auftreten.

Hier ist ein Modell, die eigene Authentizität zu überprüfen und vor allem daran zu arbeiten – das AUTHENTIZITÄTS-KREISE-MODELL:

Authentizität ist eine von mindestens vier wichtigen Zutaten.

  1. Das Glück – d.h. vor allem, den günstigen Moment zu erwischen
  2. Der Blick für sich selbst – d.h. sich selbst genau zu kennen und die eigenen Ressourcen einsetzen zu können
  3. Der Blick für Situationen und Andere – d.h. sowohl die Fähigkeit als auch die Leidenschaft
  4. Das Repertoire – d.h. für unterschiedliche Momente und Bedarfe die besten Sprache und das beste Tun zu können

Wenige anerkennen, dass kurioserweise Glück auf Platz eins liegt – da wir die Mehrzahl der Zutaten und deren Wirkung nicht 100% vorhersagen oder kontrollieren können. Wir können jedoch unseres Glückes Schmied sein – und auch hier unserem Glück größere Chancen geben.

Reden nehmen Wendungen – wir auch?

Egal, wie sehr wir uns bemühen und welche Fähigkeiten wir erworben haben – nicht selten geht es trotzdem schief. Schlimmer als eine unglückliche Äußerung sind die unglücklich-unfähigen Reaktionen auf eine unglückliche Äußerung oder Reaktion. Imposantes Beispiel war die Reaktion der CDU auf das Video von Rezo. Wir brauchen keine Angst zu haben vor Fettnäpfchen – drin bleiben wir nur, wenn wir auf eine vermeintliche Panne gar nicht oder schlecht reagieren. Straucheln und Scheitern ist kein Problem – liegen bleiben oder peinlich leugnen schon. Wie der schöne Postkartenspruch schon andeutet, !…aufstehen, Krönchen richten, weiter…“.

Re-Re-Wendungen machen Helden

Legenden bilden sich oft um die Wiederauferstehung von gescheiterten Helden. Die Fähigkeit, Wendungen zu beeinflussen oder zu drehen, kann also entscheidend sein. ‚Schlagfertigkeit‘ mit wiederum authentischen Ideen -siehe das Beispiel der Betriebsversammlung- können sogar den Effekt verstärken. Also wenn aus ‚Wir stehen hinter ihnen‘ ein ‚Wir sitzen ihnen im Nacken‘ zu werden droht, wäre ein spontane und authentische Reaktion gut. Gut gewesen.

Nicht ‚mitnehmen‘ – was dann?

Wenn es also darum geht, Menschen, die bis dato nicht involviert wurden, oder noch nichts von einer Kursänderung wissen, die von einem Punkt A zu wohin auch immer zu führen sind – dann bitte nicht von ‚abholen‘ oder ‚mitnehmen‘ sprechen, sondern von informieren, involvieren, gewinnen, begeistern etc.. Im Idealfall wollen wir die Menschen ja aktivieren und deren Ideen und Kraft für das Vorhaben gewinnen. Selbst, wenn es uns nur darum geht, dass die einfach machen, was ich will, ist es taktisch besser auch dies klar zu sagen. Ins Boot holen ist zwar auch so eine eher halb-aktive Ansprache – jedoch steckt da wenigstens noch ein bisschen das ‚holen‘ drin, das auch ein dafür gewinnen ist und eine freie Entscheidung voraussetzt. Früher wurden jedoch Leuchte eher ins Boot geholt ohne Freiwilligkeit. Also besser auch damit Vorsicht.

Einfach mal die Sinne spitzen und in den Medien sowie live Menschen und Redewendungen beobachten. Da gibt es viel Inspirationen – meistens Negativ-Inspirationen – aber immerhin. Viel Spaß beim Hinhören und Ausprobieren!

Wenn du für dich an dem Thema arbeiten willst, finde in den Angeboten das passende für dich!

Filme zu dem Thema?

Der Patriot (Film, 2000). The Great Debaters (2007). The King’s Speech (2010). Selma (2015). Die dunkelste Stunde (2017).